die
asphaltfee hatte gelernt, sich im grauen großstadtwald perfekt zu
tarnen.
im
blick der menschen zu verschmelzen mit grauem hintergrund von
betonklötzen oder dem bunten mosaik von auslagenfenstern. lediglich
ein kurzes „da war doch was?“, das in den köpfen derer, die sie
doch erblickten, den hauch einer frage nach etwas unfassbarem und
bereits verwehtem hinterließ.
sie
konnte in menschenmengen untertauchen. unberührt durch sie
hindurchgleiten. hin und wieder fing sie einzelne blicke einsamer
seelen ein und schenkte ihnen ein lächeln, das sie ein stückchen
weitertrug. vielleicht bis zur nächsten straßenkreuzung, vielleicht
auch bis zum abend. sie hoffte es jedenfalls.
die
fee sammelte die traurigkeit der menschen. sie konnte sie fühlen.
auch auf größere entfernung. auch, wenn sie als fröhlichkeit oder
lautes lachen getarnt, ihren weg kreuzte. es gab mehr als genug davon
in der stadt.
sie
ordnete die traurigkeiten nach sorten: die traurigkeit der
vergessenen, die traurigkeit der verbitterten, die traurigkeit derer,
die angst hatten, in sich hineinzublicken. die traurigkeit, die aus
angst vor dem ICH-sein entspringt. die traurigkeit, die die
traurigkeit selbst hervorbringt. und noch viele traurigkeiten mehr.
sie
hatte keine angst vor traurigkeit.
sie
hatte die lebendigkeit erkannt, die in ihr steckte. und die kraft,
die traurigkeit entfalten konnte, wenn sie sich nicht genügend
beachtet fühlte. dann wurde sie zu einer zerstörerischen energie,
der sich niemand lange in den weg stellen konnte. wie ein behäbiger,
grausamer, plumper höhlendrache, der einen nicht mehr aus den
starken fängen entkommen ließ und einem langsam die luft zum atmen
aus dem leib quetschte.
sie
war dem drachen bereits begegnet und in seine gefangenschaft geraten.
doch tief in ihr, da musste ein funken lebenswille in ihr glimmen,
der stärker gewesen war, als alle erstickende kraft der traurigkeit.
es war ihr gelungen, der bestie ins auge zu blicken und ihr wahres
wesen zu erkennen.
mit
sanftheit schließlich hatte sie den drachen besiegt. ihm liebkosend
ihre hand an die verhärteten schuppen gelegt und sein herz ertastet.
unbeirrbar. und ohne furcht. es war, als der drache seine erste träne
weinte – in diesem augenblick war er verwundbar und sein herz lag
offen und nur einen dolchstoß entfernt.
doch
vernichtung war nicht, was die fee wollte. sie hatte dem pochen des
herzens zugesehen. den rhythmus aufgenommen und im gleichen takt zu
singen begonnen. eine leise, sanfte melodie voller melancholie.
voller versöhnung und erkennen. voller wärme und hoffnung. und
voller verstehen.
erst
als das herz des drachens brach, brach der zauberbann des hasses, der
sich mit dornigen ranken wie stacheldraht darum gelegt hatte. die fee
trennte behutsam die hälften aus dem eisernen geflecht und sang
einen heilzauber aus natur und liebe, verzeihen und versöhnung. das
herz heilte, doch teil des zaubers war, dass die narbe, die
zurückblieb, nun das herz der fee zierte.
der
drache hatte sie in freundschaft ziehen lassen. dennoch war sie seit
dieser zeit eng mit ihm verbunden und vergaß niemals auch nur eine
sekunde jener zeit, die sie bei und mit ihm verbracht hatte.
es
war seine narbe, die sie in ehren hielt seit diesem tag. sie
erinnerte sie daran, dass sie dort ihre zauberkraft entdeckt hatte.
eine kraft, die zugleich energie kostete, ihr aber auch erfüllung
schenkte. inzwischen waren etliche, wenn auch viel kleinere, weniger
tiefe narben dazugekommen. sie hatte gelernt, die wunden mit geringeren opfern eigener substanz zu heilen. ganz ohne spuren blieb sie
dennoch nie. und das war gut so.
es
waren spuren von siegen über traurigkeit, die ihr kraft gaben.
sie
wusste: nie wieder würde traurigkeit ihr etwas anhaben können.
sie
stieß sich leise lächelnd an diesem grauen großstadtmorgen von der
hausmauer ab, an der sie gelehnt und die passanten beobachtet hatte
und tauchte in die menschenmenge ein.