Donnerstag, 2. Februar 2017

Die Asphaltfee und die Traurigkeit

die asphaltfee hatte gelernt, sich im grauen großstadtwald perfekt zu tarnen.

im blick der menschen zu verschmelzen mit grauem hintergrund von betonklötzen oder dem bunten mosaik von auslagenfenstern. lediglich ein kurzes „da war doch was?“, das in den köpfen derer, die sie doch erblickten, den hauch einer frage nach etwas unfassbarem und bereits verwehtem hinterließ.

sie konnte in menschenmengen untertauchen. unberührt durch sie hindurchgleiten. hin und wieder fing sie einzelne blicke einsamer seelen ein und schenkte ihnen ein lächeln, das sie ein stückchen weitertrug. vielleicht bis zur nächsten straßenkreuzung, vielleicht auch bis zum abend. sie hoffte es jedenfalls.

die fee sammelte die traurigkeit der menschen. sie konnte sie fühlen. auch auf größere entfernung. auch, wenn sie als fröhlichkeit oder lautes lachen getarnt, ihren weg kreuzte. es gab mehr als genug davon in der stadt.

sie ordnete die traurigkeiten nach sorten: die traurigkeit der vergessenen, die traurigkeit der verbitterten, die traurigkeit derer, die angst hatten, in sich hineinzublicken. die traurigkeit, die aus angst vor dem ICH-sein entspringt. die traurigkeit, die die traurigkeit selbst hervorbringt. und noch viele traurigkeiten mehr.

sie hatte keine angst vor traurigkeit.

sie hatte die lebendigkeit erkannt, die in ihr steckte. und die kraft, die traurigkeit entfalten konnte, wenn sie sich nicht genügend beachtet fühlte. dann wurde sie zu einer zerstörerischen energie, der sich niemand lange in den weg stellen konnte. wie ein behäbiger, grausamer, plumper höhlendrache, der einen nicht mehr aus den starken fängen entkommen ließ und einem langsam die luft zum atmen aus dem leib quetschte.

sie war dem drachen bereits begegnet und in seine gefangenschaft geraten. doch tief in ihr, da musste ein funken lebenswille in ihr glimmen, der stärker gewesen war, als alle erstickende kraft der traurigkeit. es war ihr gelungen, der bestie ins auge zu blicken und ihr wahres wesen zu erkennen.

mit sanftheit schließlich hatte sie den drachen besiegt. ihm liebkosend ihre hand an die verhärteten schuppen gelegt und sein herz ertastet. unbeirrbar. und ohne furcht. es war, als der drache seine erste träne weinte – in diesem augenblick war er verwundbar und sein herz lag offen und nur einen dolchstoß entfernt.

doch vernichtung war nicht, was die fee wollte. sie hatte dem pochen des herzens zugesehen. den rhythmus aufgenommen und im gleichen takt zu singen begonnen. eine leise, sanfte melodie voller melancholie. voller versöhnung und erkennen. voller wärme und hoffnung. und voller verstehen.

erst als das herz des drachens brach, brach der zauberbann des hasses, der sich mit dornigen ranken wie stacheldraht darum gelegt hatte. die fee trennte behutsam die hälften aus dem eisernen geflecht und sang einen heilzauber aus natur und liebe, verzeihen und versöhnung. das herz heilte, doch teil des zaubers war, dass die narbe, die zurückblieb, nun das herz der fee zierte.

der drache hatte sie in freundschaft ziehen lassen. dennoch war sie seit dieser zeit eng mit ihm verbunden und vergaß niemals auch nur eine sekunde jener zeit, die sie bei und mit ihm verbracht hatte.

es war seine narbe, die sie in ehren hielt seit diesem tag. sie erinnerte sie daran, dass sie dort ihre zauberkraft entdeckt hatte. eine kraft, die zugleich energie kostete, ihr aber auch erfüllung schenkte. inzwischen waren etliche, wenn auch viel kleinere, weniger tiefe narben dazugekommen. sie hatte gelernt, die wunden mit geringeren opfern eigener substanz zu heilen. ganz ohne spuren blieb sie dennoch nie. und das war gut so.

es waren spuren von siegen über traurigkeit, die ihr kraft gaben.
sie wusste: nie wieder würde traurigkeit ihr etwas anhaben können.

sie stieß sich leise lächelnd an diesem grauen großstadtmorgen von der hausmauer ab, an der sie gelehnt und die passanten beobachtet hatte und tauchte in die menschenmenge ein.