Donnerstag, 2. Februar 2017

spax (selbstschneidend, mit kreuz)

ihr magen drehte sich in die eine richtung, während die welt immer rascher in der anderen um sie kreiste – eine kombination, die das würgen, das sie bereits seit tagen in sich verspürte, noch verstärkte.

atme, verdammt! atme!“ mahnte sie sich innerlich schroff und fast verzweifelt zur ruhe. versuchte die panik niederzukämpfen, die gefährlich nah an die oberkante ihrer fassung schwappte.

da war nichts mehr, was trug. kein boden unter ihren füßen und kein halt, der ihr ermöglicht hätte ihr schwanken, hervorgerufen vom schwindelgefühl der ohnmacht, zu stoppen und sie zu stabilisieren.

sie hätte sich am liebsten ganz klein in sich zusammengezogen. wäre gern in ihr selbst verschwunden. innen drin fühlte es sich auch an, als hätten ihre eingeweide genau das zu tun begonnen. eine art von implodieren, ein sich-auflösen, das zumindest den vorteil gehabt hätte, den druck nicht mehr ertragen zu müssen, der nun schon so lange auf ihr lastete, ihr die luft nahm und jegliche orientierung.

das war alles, was sie noch fühlen konnte. es hatte den platz eingenommen, an den jene empfindungen hingehört hätten, die mit ihren eigenen bedürfnissen zu tun hatten.
bedürfnisse“ - sie betrachtete dieses wort gebannt und in sich gekehrt, als wäre es ihr völlig fremd.

so, wie worte, wenn man sie ganz oft hintereinander ausspricht, plötzlich ihren sinn verlieren und zu einem klang werden, der losgelöst ist von jeglicher bedeutung. sie machte das manchmal. eins der lieblingsworte, die sie sich in regelmäßigen abständen derart entfremdete, war „woche“.

woche woche woche woche woch e wo che wo chewo ch ewoche wochewo chewo ch e wo...chhhhh“

was war das? woche. es begann für die „anderen“ meist montags und endete freitag abends. da gab es dann so etwas wie ein wochenende. was ja wieder den anfang von einer neuen woche andeutete. den anfang von irgendetwas. wenigstens etwas, das anfing.

in ihrem leben gab es schon so lange keinen anfang. auch irgendwie kein ende. sie hätte auch nicht gewusst, wovon. ein ende vom enden des anfangs, der doch nie begann? ein anfang nach einem ende von etwas, an das sie keine erinnerung mehr hatte, weil dafür kein platz mehr in ihrem jetzigen leben war? wie fühlte es sich an zu enden? hätte es etwas erlösendes? was würde enden? das nichts, das sie lebte, konnte doch gar nicht enden. dazu hätte ja etwas vorhanden sein müssen, das einen anfang und ein ende besaß.

da war sie wieder, diese schleife in ihrem kopf. endlos, ausweglos, spiralkurven in die tiefe drehend und sie sogartig nach unten ziehend.
atme! hör nicht auf damit!“ zischte sie sich zwischen zusammengebissenen zähnen zu. der atem beruhigte sie. er verließ ihren körper in einer geraden bewegung und strömte ebenso gerade auf sie zu und in sie ein. erfüllte ihr nichts mit luft und ließ eine ahnung an das gefühl von kontrolle aufkommen. auch etwas, an das sie sich nur verschwommen erinnerte.

kontrolle“. etwas, das nur von außen auf sie einwirkte. stets. immer. ununterbrochen.

irgendwann war ihre alleinige lebensaufgabe geworden, zu funktionieren. einer kontrolle standzuhalten. ergebnisse zu liefern, die nicht als ausschuss auffielen und deshalb ausgemustert gehörten. „muster“. an ihnen konnte man sich festhalten. da war das muster für „tag“ - aufstehen, atmen, arbeiten, essen, atmen, schlafen.

ein muster für „liebe“ - aufmerksamkeit schenken, wünsche von den augen ablesen, immer für ihn da sein, wenn er da war, zärtlichkeit geben, nicht zur last fallen.

und eines für „glück“ - ein dach überm kopf, nicht allein sein, ein gewisses maß an gesundheit sein eigen nennen und nicht hungern müssen.

es ging ihr doch bestens! sie hatte ja stets volle tage, liebe und glück. warum also immer diese angst und diese leere? warum dieses empfinden, sie müsste sich doch eigentlich lebendiger fühlen und konnte es nur aufgrund irgendeines defektes ihrer persönlichkeit nicht?

bedürfnisse bedürfnisse bedürfnissebe dürfni ssebed ürfnis sebe dür fnisse bed ürf nisse bedürftige nisse nie dürfen nissen wie du bedürftig sein. nie! du nisse!“
die stimme in ihrem kopf klang vertraut, als sie so zu ihr sprach.
das kreisen hatte sich nun eine achse tiefer verlagert.

sie hatte begonnen sich langsam in den asphalt zu bohren. „selbstschneidendes gewinde!“ schoss es ihr durch den kopf. gleich würde sie spurlos vom erdboden getilgt sein. der gedanke hatte etwas erlösendes. etwas, das nie einen anfang gehabt hatte, hätte nun wenigstens sein ende gefunden.

seltsam ruhig und erstmals ganz ohne angst sagte sie mit fester stimme „spax!“. dann schloss sich der boden über ihr. spurlos und ohne das geringste geräusch.

als sie am nächsten tag und auch am übernächsten und dem tag danach und dem danach nicht zur arbeit auf der pflegestation erschien, begann man sie zu vermissen. es war einfach zuviel arbeit liegengeblieben, als dass man es noch länger hätte übersehen können.




.2009