wieder
war sie allein bis um die nächste biegung gegangen, von wo aus man
den gipfel sehen konnte und hatte ihn beim zelt zurückgelassen.
er
war – wie so oft – damit beschäftigt, die heringe tiefer zurück
ins karge erdreich zu schlagen, die sich im verlauf der zeit
stückchenweise wieder herausbewegten. teils, weil der wind an den
zeltschnüren zerrte, teils, weil sie beide beim betreten und
verlassen des zeltes an ihnen zogen und die konstruktion so wieder
lockerten.
wie
lange würden sie noch hier im basislager bleiben müssen? sie fühlte
den rauen bergwind an ihrer haut. wie er versuchte, an ihr zu
greifen, um sie stückchenweise abzutragen. so, wie er es mit dem
berg selbst tat. sie schloss die augen für einen moment um nur zu
fühlen, zog dann die jacke fester um sich und stellte den kragen
auf. blinzelnd fixierte sie den gipfel. dort wollte sie hin. mit ihm.
sie erinnerte sich nicht mehr genau, wann sie dieses ziel festgelegt
hatten und warum die wahl auf genau diesen gipfel gefallen war. es
war wohl eine ihrer typischen bauchgefühlsentscheidungen gewesen.
und
wie immer hatte er vermutlich nicht viel dazu beigetragen, außer an
den entscheidenden stellen zu schweigen. dort, wo sie ihm ihre
sehnsucht mitgeteilt hatte. sie liebte es, ihm von ihren sehnsüchten
zu erzählen und hielt sie bei ihm für in guten händen. er schwieg
dann immer und unterbrach nur selten. sie hatte ihn für sein
aufmerksames und verständiges schweigen immer geachtet.
er
war so anders als sie. sie ergänzten einander in so vielen dingen,
wo sie einander gut taten. doch seit sie zu dieser expedition
aufgebrochen waren, war sie sich vieler dinge nicht mehr so sicher.
der
wind war hier oben ein ständiger gefährte. er umraunte und
bewisperte tag und nacht ihr lager, spielte seine melodie auf den
saiten der zeltschnüre und trug ihnen herrlich verlockende
gipfelluft zu. sie konnte sich eine stille ohne ihn gar nicht mehr
vorstellen.
stille.
sie redeten nicht mehr viel miteinander in den letzten tagen. wieviel
zeit hatten sie hier auf dem ersten plateau bereits zugebracht? eine
kleine ewigkeit, wie ihr schien. doch er meinte, sie könnten erst
weiter, wenn das lager hier in einem solchen zustand wäre, dass es
durch nichts gefährdet sein konnte. er hatte seine überlegungen wie
immer gründlich dargelegt und sie hatte nichts dagegen einzuwenden
gewusst.
jeden
tag hatte sie ihn zu überreden versucht, mit ihr um diese biegung zu
gehen und gemeinsam den gipfel zu betrachten. ihr gemeinsames ziel.
doch es hatte immer einen grund für ihn gegeben, im lager zu
bleiben. also war sie jeden tag allein gegangen.
in
der zwischenzeit hatte er sich darum gekümmert, alles sauber zu
halten. frischen tee zu machen und den proviant täglich neu zu
kontrollieren. anfangs hatten sie noch gemeinsam über dem
campingkocher ihr essen zubereitet und es aufregend romantisch
gefunden. doch irgendwann hatte sie gelangweilt vom ewiggleichen
aufgehört dabei zu helfen und war lieber zur biegung gewandert, um
den gipfel zu sehen. er hatte also auch das von da an alleine
erledigt. ebenso wie die immer wieder neu zu erstellenden
kalkulationen der essensrationierung für die weitere wegstrecke.
die
gründlichkeit mit der er diese dinge erledigte, gab ihm dabei etwas
für sie so „ausschließliches“. stets, wenn sie von ihrem
täglichen gang zur biegung zurückkam, war er in eine dieser
tätigkeiten versunken gewesen und hatte sie kaum wahrgenommen. da er
alles viel sorgfältiger und gewissenhafter erledigte als sie es je
vermochte, waren allmählich alle verrichtungen und pflichten an ihn
übergegangen.
sie
war nur noch beobachterin, durfte sich in seinem heim geborgen fühlen
und die von ihm zubereitete nahrung genießen. auch den schnee zum
schmelzen des kochwassers besorgte er. zu gefährlich für sie, wie
er meinte. sie war sein ein und alles, das nicht unnötig gefährdet
werden sollte. und außerdem wusste er besser, wo die saubersten
stellen mit dem reinsten schnee zu finden waren.
manchesmal,
wenn sie um die biegung gegangen und so seinen blicken entzogen war,
hatte sie sich dort in der deckung eine handvoll schmutzigen schnees
in den mund geschoben, ohne diesen vorher von erd- oder
pflanzenresten zu säubern. wenn sie danach zu ihm zurückgekommen
war, hatte sie sich stets innerlich beschmutzt gefühlt. doch niemals
waren die verdienten magenschmerzen oder andere beschwerden
eingetreten.
sie
beneidete ihn um die zufriedenheit, um diese erfülltheit, die er
darin fand, das basislager zu hegen und zu pflegen. all diese kleinen
handgriffe, die sie so ärgerten, weil sie stets aufs neue zu
erledigen waren, verrichtete er mit einer hingabe, die sie nur in
situationen aufbrachte, die für sie aus dem alltäglichen
herausragten. sie beobachtete ihn oft beinah befremdet, wenn er seine
kontrollgänge um das zelt vornahm und den halt der schnüre und
heringe prüfte. da und dort liebevoll nachkorrigierte.
so
würde sie das nie können. es war ihr keine erfüllung und sie
fühlte sich ihm darin unendlich fern.
mittlerweile
hatte sie sich bei ihren alleingängen hinter die biegung angewöhnt
noch ein stück weiter bis an eine klippe zu wandern. sie hatte ihm
diese klippe bewusst verschwiegen. erst noch, um ihn nicht unnötig
zu beunruhigen. sie wusste ja, dass er sich sorgte. inzwischen war es
zu etwas geworden, das sie nicht mit ihm teilen wollte.
....
sie
war zunächst nur in die nähe der schroffen kante gegangen, hinter
der es in die tiefe zu gehen schien. der kitzel dieses leise geahnten
wagnisses war ihr vorerst genug gewesen. sie wollte sich ja nicht
ernsthaft in gefahr bringen. was würde er ohne sie anfangen, wenn
ihr etwas zustieß, nur, weil sie einmal unbedacht handelte?
doch
in weiterer folge war sie jedesmal ein stückchen näher an den
abgrund herangetreten. nicht sehen zu können, was in der tiefe auf
sie warten mochte, übte eine geradezu magische anziehung auf sie
aus. tief in ihrem inneren hatte sich etwas zu regen begonnen.
lebendig fühlte es sich an. so herrlich lebendig inmitten all der
erstarrung der so gehegten und gepflegten sicherheit.
seitdem
war sie stets wundersam belebt, ja gradezu erregt zu ihm in das
basislager zurückgekehrt. seine bedachtsamkeit war ihr dann im
kontrast zu ihrer inneren unrast nur noch gegensätzlicher und
fremder erschienen. er musste ihr doch förmlich ansehen, dass in
ihrem inneren etwas zu brodeln begonnen hatte. ein sehnen, das nun
geweckt worden und eben erst daran war, all seine energien zu
entfalten. all seine köstlichen, verlockenden aromen.
gipfelduft
und feuchtkühler süßlicher geruch modrigen laubs und morscher,
gefallener stämme an schroffen steilhängen unter ihr aus
vergessenen, unentdeckten tiefen. beides umspülte sie dort an der
klippe, währnd sie dabei den herrlich schmutzigen schnee auf der
zunge zerschmelzen ließ. jeden tag. drang über jeden ihrer sinne
tief in sie und zog sie unentrinnbar weiter mit sich, hin zur kante.
doch
er hatte ihr nur jedesmal sein übliches, warmes lächeln geschenkt,
ihr einen flüchtigen kuss auf die windgekühlte wange gedrückt und
sich dann wieder seinen pflichten im lager zugewendet. es war das,
was er für sie tun konnte. das, was er gut konnte. sie wusste das.
dennoch genügte es ihr plötzlich nicht mehr. und sie hasste sich
für ihre unbescheidenheit. sie war in ihren augen eine verräterin
an ihrem gemeinsamen glück.
sie
hätte so gern das lebendige, das sie dort an der klippe fand, mit
ihm geteilt. vielleicht, wenn sie ihn nur endlich leidenschaftlich
genug küsste und dabei ihr ganzes sehnen, die ganze lebendigkeit,
die sie von dort mitgenommen hatte, in ihn zu atmen vermochte, würde
er erkennen!
sie
versuchte es jeden tag aufs neue. irgendwann schließlich mit tränen
in den augen. lang und mit all ihrer seele. wenn sie es nur richtig
anstellte, musste er doch irgendwann das fühlen und verstehen, was
sie ihm so verzweifelt versuchte beizubringen.
doch
so, wie all ihre worte versagt hatten, versagten auch ihre küsse.
schließlich gab sie auch das auf und küsste von da an nur noch
mechanisch. alles andere schmerzte zu sehr. wenn es ihm aufgefallen
war, so zeigte er es nicht. wenn er sich sorgte, weil sie in letzter
zeit immer öfter weinen musste, wenn er ihr nahe kam, so gelang es
ihm, auch das gut zu verbergen.
„die
zeit heilt alle wunden“ würde er wohl zu ihr sagen, um sie zu
trösten. er würde es mit all seiner liebe zu ihr in der stimme
sagen. das wusste sie.
doch
nun war es die zeit, die die wunden schlug und jeden tag weiter
aufriss. also war sie froh, dass er die worte nicht aussprach. sie
wusste nicht, ob sie sie und seine liebe darin hätte ertragen
können.
sie
hatte begonnen, die worte auf kleine zettelchen zu schreiben und
diese zu papierpropellern zu falten, die sie dann über die kante
schickte. ihnen beim hinuntertrudeln zuzusehen, hatte etwas
tröstliches, auch wenn sie nicht genau hätte sagen können, warum.
mit
der zeit hatte sie sich auf dem bauch robbend bis an die kante
vorgewagt. sie streckte ihren kopf darüber, um den propellern bei
ihrem abwärtsflug in die tiefe zuzusehen. manche verfingen sich, zu
nah an den schroffen steilhang geweht, im gestein, wo sie ab und zu
noch vom wind erfasst zuckten, als lägen sie in ihren letzten
verzweifelten zügen. andere entschwanden sacht tiefertrudelnd ihrem
blick. sie stellte sich dann vor, wie diese behütet auf der talsohle
landeten, um dort eine neue welt zu erkunden.
sie
ertappte sich eines tages dabei, dass sie währenddessen ein lied
einer ihrer lieblingssängerinnen summte, das sie schon gemocht
hatte, lange bevor sie ihn kennen- und lieben gelernt hatte.
plötzlich machte der text sinn!
„...every
morning I walk towards the edge
and
throw little things off.
like
carparts, bottles and cutlery,
whatever
I find lying around.
I
listen to the sounds they make
on
their way down,
I
follow with my eyes 'til they crash.
I
imagine what my body would sound like
slamming
against those rocks...
and
when it lands,
will
my eyes be closed or open?
I
go through all this before you wake up,
so
i can feel happier to be safe up here with you.“
und
sie verstand und erkannte: sie war die person in dem lied! und sie
war sie schon immer gewesen.
würde
auch ihr genügen, dinge über die klippe zu werfen und der fantasie
den rest zu überlassen? vermutlich musste sie nicht alles mit ihm
teilen. sehr wahrscheinlich konnte sie das auch gar nicht. so, wie
ihre papierwünsche ihren weg in die tiefe fanden, würde auch sie
den ihren finden. nicht immer an seiner seite, für sich allein und
dorthin getragen, wo der wind es für sie vorgesehen hatte.
sie
rappelte sich hoch auf ihre knie, weg von der kante, um sich auf den
rückweg ins basislager zu machen. den anblick des von wind und
wetter zerfetzt in der felswand hängenden papierpropellers einige
wenige meter tiefer unter ihr sperrte sie tief in ihrem innersten
ein, um ihn dort so gut wie möglich zu vergessen.
während
des rückwegs beschloss sie, ihn zu fragen, ob er im basislager auf
ihre heimkehr warten würde, wenn sie allein richtung gipfel
aufbräche. vielleicht würde er sie ja dann wenigstens vermissen.
sie wusste, sie würde ihm damit wehtun. vielleicht würde er ja dann
nachfühlen können, welche schmerzen sie schon viel zu lange für
sie beide mit sich herumtrug.
sicher
war sie sich allerdings bei gar nichts mehr. und war nicht die
sicherheit das, wovon sie sich wegbewegen wollte? es war diese
verfluchte sicherheit, die sie so lebensmüde machte.
gipfelluft
drang in sie ein und begleitete sie auf ihrem weg. zurück zu ihm.
.2008
zitat liedtext: björk, "hyperballad"
zitat liedtext: björk, "hyperballad"