Donnerstag, 2. Februar 2017

Metamorphose

ER hatte sich verpuppt.
Im hintersten Winkel seiner Wohnung, an einem schwer zugänglichen Ort.

Eine neugierige Nachbarin hatte den Hausbesorger gerufen, als sich vor seiner Wohnungstür die Zeitungen dreier Wochen stapelten. Und der wiederum hatte wegen des schweren Sicherheitsriegels Feuerwehr und Polizei verständigt. Nachdem die Eingangstür aus den Angeln gehoben worden war, war ihnen zunächst ein Schwall abgestandener Luft entgegengeströmt, der den Geruch von Verwesung zur Erleichterung aller vermissen ließ. Stattdessen hing nun ein Duft im Raum, der schwer einzuordnen war.

Anders als in bewohnten Räumen, wo es - wenn auch in unterschiedlichem Maße - immer nach Körperausdünstungen, Essensgerüchen, schlimmstenfalls verdorbenen Lebensmitteln oder immer häufiger auch Raumdeodorants duftete, fiel hier das Fehlen ebendieser auf. Es roch beinah unerklärlich "sauber", unpersönlich. Dennoch - er musste daheim sein! Sein hingeworfener Schlüsselbund in der Schale auf dem Flurtischchen, seine achtlos abgestreiften Schuhe in der Flurmitte und die an die Wand gelehnte braune Aktenmappe sprachen eine deutliche Sprache.

Als der Hausmeister, eskortiert von zwei Polizeibeamten, der neugierigen Nachbarin und einem Feuerwehrmann, in die Wohnung vordrang, fiel auf, dass der Schall ihrer Geräusche immer leiser wurde. So, als würde er mit jedem Meter, den sie tiefer in die Behausung eindrangen, mehr absorbiert, verschluckt, von der Wohnung aufgenommen. Und nun sahen sie auch die Ursache dafür: Wände, Decken, Möbel, ja selbst Türblätter und Schranktüren waren mit Büchern überzogen. Die Bücher waren allesamt mit deren Buchrücken an den Untergrund geklebt und zwar in einem Abstand und Winkel, dass jedes einzelne Buch aufgefächert an das nächste stieß und so eine Art papierenen Schuppenpanzer bildete.

Es musste eine Heidenarbeit gewesen sein, die gut vierzig Quadratmeter große Wohnküche sowie das Schlafzimmer und das hintere Ende des Flurs derart auszukleiden. Von der Menge an Büchern und Klebstoff ganz zu schweigen. Jedenfalls wirkte diese Oberfläche wie ein perfekter Schallschlucker. Der fehlende Nachhall der von ihnen verursachten Geräusche wirkte eigenartig beklemmend auf die Expedition in Wohnung 6, Ressergasse 57, 2. Etage.

Es war, als würden sich alle ihren nächsten Atemzug und jede Bewegung zweimal überlegen.
Von IHM jedoch fehlte jede Spur. Manche Möbelstücke waren kaum zu erkennen in ihrer Hülle aus Papierfächerschuppen. Der ständige Wechsel von kleinsten Schatten- und Lichtflächen erschwerte das Ausmachen eindeutiger Konturen. Dort drüben schien sich eine Art Wohnwand befunden zu haben, die nun aussah wie eine Nische in einer zu hell und sauber geratenen Höhle. Sofa und Couchtisch waren da schon eindeutiger zu erkennen und bildeten zwei flache Hügel auf dem Boden. Doch was sich in der Nische zwischen der durch ein Barteil vom Wohnbereich abgetrennten offenen Küche und dem Esstisch befand, gab allen ein Rätsel auf.

Ein Sekretär vielleicht, tippte einer der Polizeibeamten. Doch dafür war die Gesamtform zu rundlich und zu schmal, kam man schließlich - flüsternd - überein.

Es war die Nachbarin, die schließlich neugierig nähertrat und mit einem leisen, von den Wänden erstickten Aufschrei auf eine kleine, eingetrockente Pfütze unter dem Objekt deutete. Erst jetzt fiel ihnen auf, dass das Objekt nicht auf dem Boden stand, sondern ebenfalls an der Wand zu haften schien. Angesichts dessen, dass es beinah menschengroß war, fanden sie diesen Umstand höchst erstaunlich. Außerdem war es als einziges nicht von aufgeschlagenen Büchern umhüllt, sondern von einer Masse, die eher an Pappmachee erinnerte. An manchen Stellen waren noch einzelne Wortfragmente erkennbar. Der Großteil der Oberfläche aber war ein verwischtes Weißgraubeige. Für Pappmachee war die Oberfläche aber andererseits nicht fest genug. Wenn man zudem genau hinsah, meinte man ein leichtes Schwingen der Hülle wahrzunehmen. Wie eine sanfte, einzige Welle, die die Form immer und immer wieder an deren Oberfläche überlief.

Einer der Polizisten tippte - vom Mut plötzlich entflammten Forschergeistes getrieben - mit seinem Schlagstock an das Objekt.
Zunächst geschah überhaupt nichts. Doch dann hörten sie es: ein leises Knistern erst, vermischt mit trockenem Rascheln. Dann ein lauteres Knacken und ein Ruck, der das "Ding" ein wenig in Vorlage kippen ließ.

Alle sprangen erschrocken zurück. Der Feuerwehrmann und der Hausbesorger gerieten dabei ins Straucheln und landeten rücklings zwischen tausenden Buchfächern, die dieses mit einer Geräuschlawine raschelnden, knisternden Papiers quittierten. Das laute Ritschratschen und Reißen hunderter, wenn nicht tausender Seiten, an denen sie im Fallen nach Halt suchten, schmerzte in den Ohren und klang dermaßen unirdisch, dass alle von Panik erfasst wurden.

Doch am unirdischsten von all dem war der nicht enden wollende Schrei der Nachbarin angesichts der Kreatur, die nun aus dem Riss in der Hülle drängte, zu Boden glitt und sich dort schlängelte und wand.

Sie schlüssig zu beschreiben, war keiner der im Anschluss daran in die geschlossene Abteilung verbrachten Augenzeugen in der Lage.
Den Protokollen zufolge musste in der Wohnung ein Halluzinogen unbekannter Herkunft und Zusammensetzung freigesetzt worden sein. Dieses musste auch dazu geführt haben, dass einer der Polizeibeamten in geister Verwirrtheit versucht hatte, mit einer entzündeten Kerze - wie er später angab - ein Möbelstück, vermutlich einen "verdächtigen Sekretär", zu inspizieren, der dabei in Brand geraten war.
Das Objekt 6, Ressergasse 57 war infolgedessen komplett ausgebrannt. Brandexperten konnten sich in keinster Weise die Geschwindigkeit erklären, mit der der Brand um sich gegriffen hatte. Der Fall würde für immer ein Rätsel bleiben und fand später sogar Eingang in Fachliteratur zum Bereich unerklärter Brandphänomene.

Unerklärlich blieb den Ärzten der psychiatrischen Abteilung vor Ort auch, weshalb alle fünf Patienten unablässig und fast zwanghaft wiederholten, der Mieter der Wohnung müsse ein echter Lesefanatiker und Bücherwurm gewesen sein. Der wahre Anlass für die Panik und das tiefsitzende Trauma allerdings war ihnen auch unter Einsatz von Regressionshypnose nicht zu entlocken.

Man legte den Fall - als klar wurde, dass man hier nicht weiterkommen würde - schließlich zu den Akten.


.2011